Wie schreibt man ein Haiku?
Der Begriff „Haiku“ begegnete mir zum ersten Mal bewusst auf einem hölzernen Briefkasten in Form eines traditionellen japanischen Hauses. Zu dieser Zeit hatte ich anderes im Kopf als Gedichte schreiben und so lief ich immer wieder an dem Kasten in der Stadtbücherei in Freiburg mit dem Aufdruck „Matsuyama Haiku Box“ vorbei, neugierig zwar, aber ohne je in Erfahrung zu bringen, was es damit auf sich hatte. Gut fünf Jahre ist das her - und mittlerweile gehören Haikus zu meinen liebsten Schreibübungen. Was sind also Haikus? Und was haben sie mit Naturverbindung zu tun?
Was sind Haikus?
Haikus sind kurze Gedichte. Oft werden sie auch als „die kürzesten Gedichte der Welt“ bezeichnet. Haikus stammen ursprünglich aus Japan, wo sie sich vermutlich aus längeren Gedichtformen heraus entwickelten, und haben eine einige hundert Jahre weit zurückreichende Tradition. Matsuo Bashō (1644–1694) gilt als der erste große Haiku-Dichter, sein Frosch-Haiku (in unterschiedlichsten Übersetzungsvarianten) als eines der meistzitierten Haiku:
Der alte Weiher:
Ein Frosch springt hinein.
Das Geräusch des Wassers.
Das auf den ersten Blick charakteristischste Merkmal von Haikus ist ihre Form: Traditionelle Haikus bestehen aus 3 Zeilen, die wiederum aus 17 Lauteinheiten (Moren) bestehen, aufgeteilt in 5 in der ersten, 7 in der zweiten und noch einmal 5 Lauteinheiten in der dritten Zeile. Außerdem gibt es ein "Kireji", ein Schneidewort, das eine hör- und lesbare
Warum die 5-7-5-Formel für Haikus umstritten ist
Haikus gehören zu den bekanntesten und beliebtesten Gedichtformen weltweit. Ihre 5-7-5-Formel wurde auch für andere Sprachen übernommen und etwa im Deutschen und Englischen auf das Zählen der Silben bezogen. Doch hier wird es sprachlich tricky. Denn das Japanische besteht nicht aus Silben, sondern den sogenannten „Moren“. Da die Moren umfangreicher sind als Silben, sind japanische Haiku üblicherweise kürzer und entsprechen eher 10 bis 14 Silben im Deutschen.
Viele Haiku-Schreiber:innen plädieren heute für einen freieren Umgang mit der Silben-Formel. Und dafür den Fokus mehr auf den Inhalt zu legen. Denn zu den Besonderheit von Haikus gehört nicht nur ihre Form, sondern auch wovon sie handeln.
Wovon handeln Haikus?
Oder: Haikus & Naturverbindung
Haikus sind jahreszeitliche Gedichte. Üblicherweise wird in einem Haiku ein Moment beschrieben. Aus diesem Moment oder der zugehörigen Szenerie geht dabei die jeweilige phänologische Jahreszeit hervor.
Das wird im Japanischen traditionell durch „Kigo“ erreicht. Kigo sind Worte und Fragmente, die in den Haiku auf auf die Jahreszeiten hinweisen. Kigo gibt es unzählige - sie füllen ganze Bücher.
Ein Beispiel wäre etwa die Erwähnung der Blüte einer bestimmten Pflanze oder die Rückkehr eines konkreten Zugvogels oder auch der Name eines jahreszeitlichen Festes.
Was nicht gesagt wird
Mit am spannendsten an einem Haiku ist, was nicht gesagt wird.
So findet sich in Haikus eher selten das „Ich“. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Das macht Haikus zu einem wunderbaren Mittel, um sich in Achtsamkeit im Außen zu üben, wobei implizit dennoch immer die Frage mit dabei ist: was berührt mich? Denn natürlich sind das die Dinge, über die wir schließlich schreiben.
Auch ein Fazit oder eine Erkenntnis wird in einem Haiku eher nicht benannt. So wie die Sicht der/des Schreibenden, bleibt dies Sache der/des Lesenden.
Wie schreibt man ein Haiku?
Vorab: Lesen
Lies, bevor Du dich selbst ans Schreiben machst, Haikus unterschiedlicher Autor:innen, um ein Gefühl für ihren Charakter zu bekommen. Zu bedenken ist, dass es für japanische Haikus, gerade für altbekannte, oft mehrere, unterschiedliche Übersetzungen gibt, da die Sprache einfach ganz anders aufgebaut ist und die Texte voller Symbolik sind.
Einen guten Einstieg findest Du zum Beispiel mit Matsuo Bashō:
Auf blattlosem Ast
Sitzt allein eine Krähe;
Herbstlicher Abend.
1) Sammeln
Begib dich an einen Platz draußen oder mit Blick nach draußen oder rufe dir einen eindrücklichen Moment in Erinnerung, vielleicht eine jahreszeitliche Wahrnehmung oder Begegnung mit einem Lebewesen.
Nimm, wenn Du möchtest, 2, 3 tiefe Atemzüge, um im Moment anzukommen. Was ist zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen, zu schmecken? Was ist in diesem Moment da, was wenige Wochen früher oder später nicht zu finden sein würde?
Sammle deine Eindrücke oder Erinnerungen en détail in Form von Stichworten oder einem kurzen Text. Als Rahmen kannst Du dir dafür einen Timer auf 3 - 5 Minuten stellen.
2) Formen
Löse dich nach Möglichkeit vom eben Geschriebenen. Das kann bedeuten, den Text einige Zeit liegenzulassen. Oder auch nur für einen Moment den Blick, die Wahrnehmung auf etwas anderes zu richten und tief durchzuatmen.
Lies dann deine Stichworte oder deinen Text in Ruhe durch und markiere, was dich an Worten und Fragmenten spontan anspricht. Vielleicht ist etwas dabei, was sich mühelos als Ganzes in die Haiku-Struktur schmiegt, vielleicht findest Du aber auch etwas, was sich erweitert oder gekürzt einfügt.
Es spricht nichts dagegen, sich dabei an der 5-7-5-Struktur mit Silben zu orientieren - die Struktur gibt Halt. Es spricht ebensowenig etwas dagegen, von der festen Formel abzuweichen.
3) Loslassen
Das Schöne ist: Haikus dürfen ganz ohne Anspruch geschrieben werden. Es sind kleine Momentaufnahmen. So kurz, dass wir mit Leichtigkeit Unzählige schreiben und uns dabei ausprobieren können.
Versuche, nicht zu lange bei einem Haiku zu bleiben und lasse es am besten einige Zeit liegen bevor Du es wieder liest.
Ein Haiku ist wie eine kurze Notiz, deren Wert mehr im Inhalt als in der Form liegt.
Tipps für das Schreiben von Haiku:
- Lasse das „Ich“ zunächst außen vor und konzentriere dich auf die Wahrnehmung, den Moment.
- Beziehe dich auf etwas Reales.
- Verzichte auf Analyse und Wertung.
- Schreibe in der Gegenwartsform.
- Halte deine Beschreibungen möglichst einfach und roh.
Haiku-Praxis
Vor kurzem habe ich mir ein Haiku-Heft angelegt. Darin sammle ich nun immer wieder einige Haikus aus dem Hier und Jetzt.
Das Heft habe ich - entsprechend der 10 phänologischen Jahreszeiten - in 10 Abschnitte unterteilt. (siehe Bilder 2 & 3) Ich nutze dafür ein Notizbuch mit 94 Blättern, also 9 Blätter bzw. 18 Seiten je phänologischer Jahreszeit, aber natürlich funktioniert auch ein größeres oder kleineres Notizbuch.
Für jeden Abschnitt notiere ich die jeweilige phänologische Jahreszeit, also z. B. den Erstfrühling. Danach schreibe ich einzelne Haikus einfach mit etwas Abstand untereinander, ohne Überschrift, ohne Datum.
Für mich passt diese Einteilung sehr zum Charakter von Haikus. Alternativ kannst Du dein Heft auch in Monate unterteilen oder eine eigene Einteilung wählen.
Haikus sind für mich von etwas, dem ich über mehrere Jahre als abstraktes Wort immer wieder begegnete, zu einer meiner liebsten Schreibübungen geworden. Alle paar Tage schreibe ich ein oder mehrere Haikus in mein Notizbuch und freue mich darüber, die Sammlung an echten Momenten wachsen zu sehen.
Und wie wäre es mit einem in Pilztinte verfassten Haiku?
Mehr:
- Jedes Jahr im Februar (dem kürzesten Monat!) findet der „National Haiku Writing Month“ (NaHaiWriMo) statt.
- Auf haiku.de findest Du Informationen der deutschen Haiku-Gesellschaft, die unter anderem ein den japanischen Gedichtformen gewidmetes Magazin veröffentlicht.
- Das Projekt der "Matsuyama Haiku Box" in Freiburg ist übrigens eine Kooperation mit der Stadt Matsuyama in Freiburg. Jede:r kann selbstgeschriebene Haikus in den Briefkasten werfen oder per Mail schicken. Die Einreichungen werden regelmäßig nach Matsuyama geschickt, wo alle Gedichte ins Japanische übersetzt werden. Die Gedichte, die am meisten Anklang finden, werden jeweils zu Jahresbeginn ausgezeichnet.