12.12.2024 13:49

Raunächte - Was uns die Zeit zwischen den Jahren verrät

Nur für einen kurzen Moment ist das Leuchten zu sehen, dafür ist es umso intensiver: in grellem Goldorange flammt der Kamm der Berge auf der gegenüberliegenden Talseite auf, früh morgens, wenn sich der nächtliche Nebel über den Wiesen gerade so aufgelöst hat. Nur für diesen kurzen Moment lugt die tiefwandernde Wintersonne zwischen den Hügeln hindurch, bevor sie für die nächsten Stunden dahinter verschwindet, um erst am Nachmittag und fast auf der gegenüberliegenden Seite wieder aufzutauchen und zumindest für ein paar Stunden noch unser kleines Tal aufzuhellen. Es sind die dunkelsten Tage des Jahres. Am 21. / 22. Dezember zieht die Sonne auf der Nordhalbkugel ihre niedrigste Bahn, sind die Tage kurz und flüchtig und die Nächte lang, üppig und zäh. Hier im Schwarzwald, zwischen Hügeln und Wäldern, macht sich das deutlich bemerkbar.

Für die einen sind diese Tage, mit ihrer dunkelgrauen Schwere, aber auch mit all dem Ballast, der auf unterschiedlichsten Ebenen daran hängt, eine große Herausforderung. Für andere gehört die Zeit zwischen den Jahren zu den schönsten und erholsamsten des Jahres. Ich zähle mich zu letzteren - was nicht immer so war. Erst im Laufe der Jahre habe ich die Qualität dieser Zeit schätzen gelernt: die Dunkelheit, die Ruhe, die Kälte, die allesamt zum Rückzug einladen, zur Reflexion, aber auch zum Planen und Träumen für das kommende Jahr. Und zum Schreiben. (Hier findest Du direkt mehr zum Schreiben zwischen den Jahren.)

Was hat es auf sich mit dieser Zeit? Was sind „Raunächte“, wie die Tage zwischen den Jahren auch genannt werden? Und was verraten sie uns, über die Natur - und uns selbst? Hier sind meine, mitunter ganz persönlichen, Antworten.

 

Was sind Raunächte?

Die „Raunächte“ bezeichnen die Zeit „zwischen“ dem alten und dem neuen Jahr. Dieses „Dazwischen“ ergibt sich aus der Differenz zwischen dem Mond- und Sonnenjahr. Zur Orientierung im Jahresverlauf nutzten die Menschen lange Zeit den Mondmonat, also die Rhythmen zwischen Neumond und Vollmond, die ohne viel Aufwand zu erkennen sind. Dieser Zyklus dauert etwa 29,5 Tage, woraus sich bei 12 Mondmonaten 254 Tage ergeben. Das Sonnenjahr hingegen dauert etwa 365 Tage. Von ihm hängen die Jahreszeiten ab, jedoch ist es weit weniger einfach bestimmbar. Die vom Mondjahr ausgehend verbleibenden 11 Tage und 12 Nächte wurden zwischen zwei Jahren verortet und im Laufe der Zeit als “Raunächte” oder unter anderen Namen mit zahlreichen Ritualen, Bräuchen und Geschichten bedacht.

Zur Geschichte, den Bräuchen und Ritualen in den Raunächten gibt es noch viel, viel mehr zu erzählen. Für tiefgehend recherchiertes Hintergrundwissen empfehle ich das Buch „Raunächte“ von Kathrin Blum [Rezensionsexemplar / Affiliate-Link zum sozialen Buchhandel Buch7].

Wann sind die Raunächte?

Festgelegt werden die Raunächte meistens zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar. Es gibt aber auch die Variante, sie zwischen der Wintersonnwende (21. / 22. Dezember), also dem dunkelsten Tag des Jahres, und dem neuen Jahr einzuordnen - so mache ich es persönlich auch, da der Beginn mit der Sonnwende und das Ende mit dem Jahreswechsel sich für mich schlüssiger anfühlen.

 

Was die Raunächte verraten

Wie ich für mich die Qualität der Raunächte entdeckte

Um zu erklären, warum die Raunächte eine so große Bedeutung für mich haben, hole ich ein bisschen weiter aus ... Über Jahre hatte ich mit den Symptomen chronischer Anspannung zu kämpfen, ohne von diesem Zusammenhang zu wissen. Ich fühlte die Anspannung nicht, weil ich schlicht nicht wusste, wie sich ein Körper ohne anfühlt. Mit der Zeit häuften sich die Symptome und insbesondere meine Migräne, die mich über Tage hinweg ausschalten konnte, wurde immer schlimmer. Die Zeit zwischen den Jahren empfand ich vor allem als überfüllt und überfordernd und hätte sie im Kalender am liebsten übersprungen. Spätestens ab November war ich überall, nur nicht im Hier und Jetzt. Das ist eben so, dachte ich, vor allem wenn man einen Online-Shop betreibt, der ganz essenziell vom Geschäft vor Weihnachten abhängt.

Dann kam die Pandemie. Und zum ersten Mal erlebte ich die Raunächte … anders. Ich fühlte, statt Enttäuschung über ausfallende Termine oder dem Gefühl etwas zu verpassen, nur eines: Erleichterung. Eine Erleichterung auf körperlicher Ebene, ein Abfallen von Anspannung, wie ich es bis dahin nicht gekannt hatte. Zum ersten Mal hatte ich die Ruhe und den Fokus, die echte Qualität dieser Zeit wahrzunehmen - die Dunkelheit, die Ruhe, das Innehalten. Und ich war, zu meiner großen Überraschung, mit einem Mal in der Lage vieles loszulassen, bei dem sich das dahin unmöglich angefühlt hatte, konnte Fäden abtrennen, bei denen es seit langem gezerrt und geziept hatte. Ich lernte, wie sich Ruhe und Entspannung wirklich anfühlen und meine Antennen schärfer einzustellen für die frühzeitigen Hinweise meines feinfühligen Nervensystems. Das hat vieles verändert und davon zehre ich bis heute.

Die Zeit zwischen den Jahren konfrontiert uns

Was die Raunächte uns verraten, ist individuell und kann von Jahr zu Jahr etwas anderes sein. Achtsamkeit bedeutet Einlassen auf die Konfrontation mit den Besonderheiten dieser Zeit

Für mich steht dabei das Loslassen im Vordergrund. So, wie es viele Pflanzen, Pilze, Tiere tun. Ein Reset. Ein Kalibrieren. Was lasse ich im alten, was nehme ich ins neue Jahr?

Und was ist es für dich? Was macht für dich diese Zeit aus? 

Schreiben kann dabei helfen, dies zu reflektieren. Und es ist eine Möglichkeit, das Gefundene festzuhalten, greifbar zu machen und zu verdichten.

 

Schreibend durch die Raunächte

In den letzten Jahren entstanden viele Bücher und Angebote zu den Raunächten. Leider finde ich mich in den wenigsten wieder. Esoterik, Religion, aber auch unflexible, scheinbar unumstößliche Regeln sind nichts für mich, da rebelliert es in mir.

Mein wichtigster Begleiter durch die Raunächte ist stattdessen das Schreiben. Genauer gesagt: wildes Schreiben.

„Wildes Schreiben“ …

… ist freies Schreiben inspiriert von der Natur und ihren Rhythmen. Oder anders gesagt: „Freewriting“ trifft „Nature Writing“. Dabei schreiben wir auf Zeit (für den Anfang 5 - 15 Minuten) oder Länge (A5 bis A4) und zügig, idealerweise ohne den Stift zwischendurch abzusetzen. Mehr dazu an anderer Stelle - oder in den regelmäßigen (kostenfreien) Schreibstunden.

 

Wie geht das - Schreiben in den Raunächten?

Es gibt nicht den einen Weg fürs Schreiben - gerade das macht es so spannend. Was uns aber helfen kann, unseren eigenen Schreibpfad zu finden, ist ein Rahmen. Einer, der Halt gibt ohne einzuengen.

Das ist zum Beispiel:

  • Ein fester Ort, egal ob drinnen oder draußen. Ob in Ruhe hinter einer verschlossenen Tür, Mitten im Trubel im Café oder am Küchentisch. Oder der feste Plan, für jede der 12 Nächte einen anderen Ort zu wählen.

  • Auch die immer wieder gleiche Zeit kann dabei helfen, ins Schreiben zu kommen. Vor allem für den Anfang kann es Sinn machen, eine Erinnerung dafür am Handy einzustellen.

  • Zusätzlich, aber auch unabhängig von Zeit und Ort, schaffen Rituale einen temporären „Raum“. Dazu reicht es schon, zum Schreiben eine Kerze, ein Räucherstövchen, eine Duftlampe oder ähnliches anzuzünden. 

 

Worüber soll ich schreiben?

Es darf geschrieben werden, was geschrieben werden will oder muss. Das ist natürlich nicht zu verwechseln mit dem Veröffentlichen ... aber das steht - im wahrsten Sinne - auf einem anderen Blatt. Möchtest Du in den Raunächten schreiben, gibt es dafür unzählige Möglichkeiten - drei davon sind:

  • Schreiben ohne Thema // Schreibe drauf los. Ohne abzusetzen. Schreib, dass Du nicht weißt, was Du schreiben sollst, wenn es das ist, was dir durch den Kopf geht oder zeichne Wellenlinien und vertraue darauf, dass da noch mehr ist und früher oder später auf Papier fließen wird.

  • Schreiben zu Beobachtungen // Schreibe über das, was Du gerade siehst, hörst, riechst, schmeckst und fühlst. Jeden Tag aufs Neue. Am selben Ort, zur selben Zeit oder an unterschiedlichsten Orten, zu unterschiedlichsten Zeiten.

  • Schreiben zu Impulsen // Impulse sind Wörter, Satzanfänge, Bilder und andere Eindrücke, von denen ausgehend geschrieben wird. Wir schreiben nicht auf etwas hin, sondern von etwas ausgehend. Was daraus entsteht, ist völlig offen. Und wie sehr man sich am jeweiligen Impuls orientiert, bleibt einem überlassen.

 

Impulse speziell für die Raunächte findest Du hier: „Zwischen den Jahren“ - 12 Impulse für Achtsamkeit in den Raunächten. Diese Impulse sind entstanden aus dem Wunsch nach einem einfachen Ritual für die Raunächte, nach kurzen Momenten der vollen Konzentration im Hier und Jetzt. Auf die Impulse kannst du nach dem Bezahlen sofort zugreifen. Du kannst sie digital nutzen oder als Karten ausdrucken und ausschneiden. Im Begleitheft erfährst Du, wie Du dein ganz eigenes Schreibritual gestaltest und leicht ins Schreiben findest.

 

Goldsuche & Festhalten

Nach dem Schreiben kannst Du dich auf Goldsuche begeben. Nimm dir ein paar Minuten Zeit, um den entstandenen Text zu überfliegen. Welche Wörter und Phrasen fallen dir besonders auf? Erkennst Du Zusammenhänge oder Widersprüche? Markiere sie (ich mache das gerne mit einem Goldstift - daher der Name).

Es ist spannend, das Geschriebene - oder eine Essenz daraus - festzuhalten. Zum Beispiel in einem kleinen Notizbuch oder auf Karten. So kannst Du die Texte übers Jahr lesen oder nach den nächsten Raunächten mit den Dazugekommenen vergleichen. Oder vielleicht hast Du etwas entdeckt, was Du dir auf einer Karte in die Wohnung stellen oder hängen möchtest?

 

In allen Überlegungen zu den Raunächten ist vor allem Folgendes wichtig: dass wir uns nicht erst recht Druck aufbauen, weil wir möglichst viel aus dieser Zeit herausholen oder bestimmten Vorstellungen hinterherrennen. Mach die Raunächte zu deinem - das kann genauso bedeuten, sie völlig selbst zu gestalten wie auch ganz bewusst einem Plan von Außen zu folgen. 

In jedem Fall wünsche ich dir und euch eine gute Zeit zwischen den Jahren!


Ein Hinweis von Herzen: nichts liegt mir ferner als in einer auf Selbstoptimierung ausgerichteten Welt noch mehr Druck aufzubauen (been there, done that). In diesem Post teile ich, was sich für mich über die letzten Jahre herauskristallisiert hat. Entsprechend basieren die Ideen stark auf dem, wie mein Leben strukturiert ist. Nehmt euch gerne, was für euch und eure Lebenssituation passt - und lasst alles andere guten Gewissens liegen.