Krähenzeit
Die Baumkronen sind schon mehr schwarz als braun als wir kurz vor der Dämmerung durch den Stadtpark laufen. Immer mehr flirrige, schwarze Wolken kommen aus verschiedenen Himmelsrichtungen und scheinen sich über den hohen Platanen aufzulösen. Jedes Mal wenn sich Neuankömmlinge auf den Ästen niederlassen, schwillt das Kraah, Kraah kurz an. Einzelne, die schon einen Platz gefunden hatten, flattern auf, man ordnet sich neu an. Und mir, die ich etwas abseits stehe, mit den Augen in Richtung der Baumkronen vor einem grauen Herbsthimmel, bleibt beinahe der Atem stehen: diese Wucht, die Koordination und irgendetwas, das sich nicht in Worte fassen lässt. Es müssen hunderte Krähen sein, die sich hier versammeln, zwischen Neckar und Naturkundemuseum, Mitten in der Großstadt. Jetzt im Herbst sind immer wieder Schwärme unterschiedlicher Vogelarten zu beobachten, auf dem Weg Richtung Wärme. Aber die Krähen hier sammeln sich nicht, um zusammen eine lange Strecke zu schaffen. Warum dann?
Zusammen durch Nacht und Kälte

Die Krähen im Park sind überwiegend oder ausschließlich Rabenkrähen. Zur Brutzeit nisten sie getrennt in Paaren und sind sehr territorial. Wenn aber die Jungen aus den Nestern sind, tun sie sich zusammen zu Schlafgemeinschaften, wie hier, und treffen sich in der Dämmerung. Im Herbst und Winter können diese Gruppen dann noch um Krähen aus dem Norden und Osten anwachsen, die in wärmeren Gebieten überwintern und sich den bestehenden Gemeinschaften dort anschließen. Und nicht nur Rabenkrähen aus unterschiedlichen Gegenden kommen dazu, auch andere Arten und Unterarten von Raben und Krähen sind dabei. Raben und Krähen bilden innerhalb der Familie der Rabenvögel (Corvidae) zusammen die Gattung Corvus. Die größeren unter ihnen werden als „Raben“, die kleineren als „Krähen“ bezeichnet, ohne dass das offizielle wissenschaftliche Zuordnungen wären. An Raben und Krähen kommen in Europa Kolkrabe, Rabenkrähe, Nebelkrähe, Saatkrähe und Dohle vor - und alle von ihnen können Teil einer solchen großen Gemeinschaft sein.
- Rabenkrähen sind die häufigste Art von Krähen westlich der Elbe. Oft werden sie mit ihrem schwarzen Gefieder für Raben gehalten, sind aber nur halb so groß und haben ganz andere Bedürfnisse und Eigenarten. In der Brutzeit leben sie in Paaren, außerhalb davon in Gruppen.
- Östlich der Elbe sind die Nebelkrähen unterwegs, enge Verwandte der Rabenkrähen. Man erkennt sie gut an ihrem teils grauen, teils schwarzen Gefieder.
- Saatkrähen brüten und leben ganzjährig in Kolonien, mittlerweile auch in einigen Gegenden in Deutschland. In anderen sind sie nur Durchzügler oder Wintergäste. Wenn von großen, lauten Krähenkolonien in Innenstädten die Rede ist, sind das üblicherweise Saatkrähen, die im ländlichen Bereich kaum mehr passenden Lebensraum finden und deshalb auf die Innenstädte ausweichen.
- Dohlen, auch Turmkrähen genannt, leben ebenfalls ganzjährig in Grüppchen, oft in Menschennähe und in zugänglichen Strukturen wie Kirchentürmen oder Ruinen. Sie sind die kleinsten, gerade mal so groß wie Tauben. Ähnlich wie Nebelkrähen sind sie schwarz-grau. Gut erkennen kann man sie an ihren blauen Augen, während die der anderen dunkel sind.
- Der Kolkrabe ist der einzige Rabe in Europa. Er ist deutlich größer, doppelt so groß wie die ohnehin für einen Vogel recht große Rabenkrähe. Im Gegensatz zu den Krähen halten sich Raben eher von den Menschen fern. In einer Gruppe von Krähen findet man ihn eher nicht.
Wenn ich über “Krähen” schreibe, ist wichtig zu wissen: Arten von Krähen unterscheiden sich voneinander bezüglich ihrer Verhaltensweisen und Fähigkeiten ebenso wie verschiedene Gruppen und auch Individuen. Da Krähen sehr direkt voneinander lernen, setzen sich bewährte Methoden innerhalb einer Familie oder Gruppe durch, die anderen völlig unbekannt sind. Und nicht alles, was bei einer Art beobachtet wurde, trifft auf andere Arten zu. Wie du sie voneinander unterscheiden kannst, ist hier bei der Vogelguckerin sehr schön beschrieben.
Warum?
Menschen kennen keine unbestrittene Antwort auf die Frage, warum sich Krähen zusammentun - solange wir sie nicht fragen können, können wir nur spekulieren: Eine naheliegende Theorie ist, dass sie den Schutz der Gruppe schätzen. Krähen sehen nachts nichts und sind dadurch besonders angreifbar. In der Gruppe bekommt man die Präsenz einer Gefahr viel eher mit, bevor sie einem selbst gefährlich wird. Eine weitere ist, dass Krähen die Zeit in Gemeinschaft nutzen, um Kontakte zu knüpfen, Partner:innen zu finden und um voneinander zu lernen. Krähen sind sehr lernfähig. Manche Arten können auf komplexe Art Werkzeuge nutzen und diese sogar selbst herstellen. Bei der Amerikakrähe, die das amerikanische Äquivalent zu Raben- und Nebelkrähen ist, wurde festgestellt, dass sie sich um tote Artgenossin:nen versammeln und Menschen meiden, wenn sie sie einmal in Verbindung mit dem Tod einer anderen Krähe gebracht haben. Dieses Wissen und Verhalten geben sie sehr schnell an Krähen in ihrer Umgebung und auch an ihre Nachkommen weiter. Ganz generell scheinen Gemeinschaft und Lernen für Krähen einen hohen Stellenwert zu haben.

Krähen begegnen
Krähen können wir das ganze Jahr über begegnen. Jetzt im Herbst und Winter, wo viele andere Vögel verreist oder weniger präsent sind, schätze ich ihre Präsenz besonders. Es hat lange gedauert, bis ich mich von der generellen Faszination für Vögel habe anstecken lassen, aber Rabenvögel - zu denen Krähen gehören - faszinieren mich schon immer. Ich mag es, ihnen zuzusehen, wie sie fliegen, interagieren, wie sie im Sommer im Flug mit Mäusebussarden und Rotmilanen kämpfen, wie sie aufmerksam und selbstbewusst durch Innenstädte hopsen.
Krähen sind, wie alle Rabenvögel, intelligente, sehr soziale Kreaturen. Menschen gegenüber sind sie meistens erst mal misstrauisch. Wobei ich von einer Nebelkrähe auch schon mal sehr vehement zum Gehen aufgefordert wurde, als ich am Ostseestrand versuchte eine gestrandete Ohrenqualle aus dem Sand zu graben. Ich hörte ein lautes, näher kommendes “Kraah kraah” von hinten und als ich mich umdrehte, sah ich die Krähe auf mich zukommen. Als ich Platz machte, inspizierte sie die Qualle, fand sie aber nicht weiter interessant und lief davon. Vielleicht war ich ein bisschen schadenfroh, als eine Welle ihre Füße erwischte und sie meckernd davon flog … Angst muss man vor Krähen nicht haben. Manchmal ist von Krähenangriffen zu lesen, die sind aber üblicherweise bedingt dadurch, dass die Krähe ihren Nachwuchs beschützt, wenn man sich dem Nest in der Brutzeit zu sehr nähert. Aber in aller Regel sind wir Menschen in einer Begegnung mit Krähen die furchteinflößenderen und wenn wir mit ihnen in Kontakt treten wollen, müssen wir uns erst mal als vertrauenswürdig erweisen. Krähen gehören zu den wenigen Vögeln, bei denen bekannt ist, dass sie Menschen an ihren Gesichtern erkennen können. Wer es sich also mit einer Krähe verscherzt, wird womöglich auf Generationen hin von den Krähen in der Gegend gemieden werden. Selbst wenn es gut gemeint ist und man eine tote Krähe begräbt während andere zusehen. Krähen können wahrnehmen, wenn sie beobachtet werden und verhalten sich anders. Es wurde schon festgestellt, dass sie vortäuschen an einem Platz zu nisten, der gar nicht der tatsächliche Nistplatz ist oder dass sie Futter an Stellen zu vergraben, nur um es später woanders zu verstecken, wenn sie wieder unbeobachtet sind.
Nüsse - oder: wie man sich mit Krähen anfreundet
An einem sonnigen Maiabend traf ich zwei vorsichtige, aber neugierige Nebelkrähen am Ufer des Wannsees. Nebelkrähen zu begegnen ist für mich immer eine große Besonderheit, da die Rabenkrähen-Nebelkrähen-Grenze einige hundert Kilometer weit entfernt von dort verläuft, wo ich lebe und es einfach sehr selten vorkommt. Als Nussliebhaberin habe ich immer einige Nüsse dabei, die ich in diesem Moment gerade snackte, und weil ich um die Nussliebe der Krähen weiß, bot ich den beiden einige davon an, die sie gerne und mit einigem Abstand zu mir von der Wiese aufsammelten. Da ich auf dem Weg zum Zug war, musste ich mich bald verabschieden, aber die Frage kam mit mir nachhause, ob es wohl möglich war, sich mit Krähen anzufreunden, wo sie sich doch Gesichter merken konnten.
Ich fand unzählige Geschichten von Freundschaften zwischen Krähen und Menschen. Am bemerkenswertesten fand ich die von Gabi Mann , die als Kind anfing die Krähen auf dem Schulweg mit ihrem Pausenbrot zu füttern, später dann im Garten mit Nüssen. Die Krähen brachten ihr im Gegenzug was sie so fanden: Knöpfe, Reißverschlussanhänger, Schmuck, Glühbirnen, Schrauben, Spielzeug - und Gabis Mutter sogar den Deckel ihrer Kameralinse, den sie kurz davor verloren hatte.

Und ich fand Tipps, wie man sich mit einer Krähe anfreunden kann:
- Erwartungen klären. Warum möchte ich mit einer Krähe interagieren? Was erwarte ich?
- Nüsse. Ungesalzen. Mit oder ohne Schale. Erdnüsse mit Schale sind besonders praktisch und sehr beliebt.
- Rücksichtsvoll und ruhig nähern beziehungsweise auf Annäherung warten. Desinteresse oder Misstrauen akzeptieren.
- Darauf achten, die Nüsse nicht direkt in Richtung der Krähen zu werfen, damit sie nicht als Bedrohung wahrgenommen werden.
- Kein großes Ding draus machen und die Krähe(n) in der ersten Zeit nicht beim Essen beobachten, da sie auch das misstrauisch misstrauisch machen kann - und selbst möchte man das ja auch eher nicht.
- Verlässlichkeit. Krähen haben Lieblingsplätze, die sie immer wieder aufsuchen. Komme immer wieder vorbei und schau, wie es sich entwickelt. Und nur wer Nüsse dabei hat, kann sie auch anbieten.
Seit ich mich näher mit Krähen beschäftigt habe, fallen sie mir noch öfter in meiner Umgebung auf als früher. Man könnte denken, dass die Faszination weniger wird, wenn man mehr über eine Kreatur erfährt, dass etwas vom Wundersamen verloren geht. Ich stelle aber immer wieder fest, dass das Gegenteil der Fall ist. Dass die Faszination genau so größer wird wie der Respekt. Und ich habe mittlerweile einen kleinen Beutel voller Extranüsse dabei.
— Schreibimpulse zum Mitwundern —
- Was verbindest du mit Krähen? Neugier, Sympathie, Angst, Grusel, eine bestimmte Geschichte oder Begegnung?
- Schreibe über eine Begegnung mit einem nichtmenschlichen Lebewesen: eine die bereits stattgefunden hat oder eine, wie Du sie dir wünschen würdest. Versuche dabei der menschlichen und der nichtmenschlichen Perspektive Raum zu geben.
Mehr über Rabenvögel:
- In diesem und in diesem Video siehst Du je eine Krähengemeinschaft, wie sie sich in der Dämmerung sammelt. Bekomme jedes Mal Gänsehaut.
- Passend zum Herbst und Winter sind natürlich auch Märchen. Ganz generell mag ich osteuropäische Verfilmungen immer sehr. Die Sieben Raben ist eine solche und meine liebste Märchenverfilmung überhaupt.
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Quellen:
- Ologies Podcast: “Crow funerals”, inkl. weiterführende Links von dort
- Studie zur Gesichtserkennung
FAQ zu Krähen auf corvidresearch.blog - Rabenvögel unterscheiden bei der Vogelguckerin
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