An einem Spätsommerabend machte mich mein Kater auf eine kleine, grellorange Kreatur aufmerksam. Sie flatterte im hohen Gras am Rand des Baches, an dem wir gerade entlang wanderten und schien Schwierigkeiten zu haben, aus dem Dickicht zu kommen. Je näher ich kam, desto höher schlug mein Herz: ein Nachtfalter! Und ein so großer, wie ich sie bisher nur von Instagram kannte! Über die Jahre hatte ich dort immer wieder große, bunte, flauschige „Motten“ gesehen - und mich ein bisschen verliebt. Im Vergleich zu den Tagfaltern (die wir gemeinhin “Schmetterlinge“ nennen, auch wenn Nachtfalter ebenfalls zu dieser Gruppe gehören) sehen Motten skurriler und niedlicher aus. Mit ihrem Flausch und den üppigen Fühlern erinnern sie mich immer an Schottische Hochlandrinder - nur in winzig. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: Motten sind verdammt putzige Flauschis, wenn man sie genauer betrachtet.
Eine Weile lang beobachtete ich die große, braun-orange Motte. Immer wieder flatterte sie ein Stück nach oben, verfing sich dann aber im dichten Gras und fiel zurück. Vorsichtig griff ich nach ihr und bekam sie tatsächlich zu fassen. Mit der Motte in der Hand ging ein paar Schritte weit aus dem Schatten des Gebüschs und setzte mich in der Wiese in das letzte Bisschen Wärme der Abendsonne, mein Kater tat es mir gleich. Die Motte hielt sich an meinem Zeigefinger fest, saß da, das obere über das untere Flügelpaar geklappt, sodass nur der eher unauffällige braune Teil der Flügel zu sehen war. Es vergingen einige Minuten. Schließlich hob sie ab, flatterte mühsam knapp über dem Boden davon - und zurück in das Gestrüpp am Bach, wo ich sie nicht wieder sah.
Zurück zuhause begann ich zu recherchieren. Ich fand heraus, dass es sich bei dem Falter um Arctia caja gehandelt hatte - der „Braune Bär“. Und dass dieser eigentlich nachtaktiv war. Außerdem war er in dieser Gegend als “gefährdet” eingestuft und ein so genannter “Kulturflüchter”, also ein Lebewesen, das Menschen und was sie üblicherweise mit ihrer Umgebung anstellen, meidet. Mein Kopf schwirrte noch eine ganze Weile von dieser Entdeckung. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass es solche großen Falter „bei uns“ gab. Ohne näher zu recherchieren war ich davon ausgegangen, dass es Motten, die größer sind als die bis zu daumennagelgroßen, die manchmal durch Ritzen in die Wohnung schlüpften, nur in anderen - vielleicht wärmeren, tropischen, vielleicht wilderen - Gegenden gab. Dabei war mir wenige Jahre zuvor auf der Schwäbischen Alb schon mal eine große Motte begegnet: ein Taubenschwänzchen, ein tagaktiver Nachtfalter, der wie ein Kolibri in der Luft steht, während er Nektar aus Blüten saugt.
Taubenschwänzchen
Warum wir kaum (große) Nachtfalter sehen:
Nicht alle, aber die meisten von ihnen sind nachtaktiv.
Falter sind sehr sensibel und extrem bedroht - viele Arten sind bereits ausgestorben, andere drastisch reduziert. In den letzten 30 Jahren sollen 50 % der Arten verschwunden sein, sowie 70 - 80 % der Individuen.
… und: wir übersehen sie.
Als mit dem beginnenden Sommer die ersten kleinen braunen Falter von draußen ins Haus flatterten, war ich fest entschlossen, meine Ignoranz zu überwinden. Ich rechnete damit, dass die „kleinen braunen Motten“ überwiegend zu einer Art gehören würden, aber als ich sie näher inspizierte, entdeckte ich immer wieder neue und viele waren nicht einmal braun, sondern weiß, grau oder grün. Alle paar Tage entdeckte ich eine neue Art - direkt vor meiner Nase. Und ich recherchierte weiter …
10 (von unzähligen) Fakten über Motten:
In Deutschland gibt es aktuell noch etwa 1200 Arten von Nachtfaltern.
Etwa 300 davon sind (ganz oder auch) tagaktiv. Das sind mehr als es Tagfalter insgesamt hier gibt. (Tagfalter fliegen übrigens tatsächlich nur tagsüber.)
Tagfalter und Nachtfalter unterscheiden sich zwar nicht strikt durch ihre Fluggewohnheiten, dafür aber durch einige Merkmale: 1) Die Fühler von Nachtfaltern sind vielfältiger, oft größer als die von Tagfaltern - bei manchen sehen sie aus wie üppige Federn. 2) Sie haben unauffälligere Farben, zumindest am oberen Teil der Flügel, den sie - noch ein Unterschied - in der Ruhehaltung über den unteren klappen. So sind sie gut getarnt, können aber den grellen Teil aufblitzen lassen, um etwa Vögel abzuschrecken.
“Blutströpfchen”, “Ordensband”, “Eisenhut-Höckereule”, “Zimtbär” - nur ein paar der kuriosen Namen.
Hornissenglasflügler sehen Hornissen so überzeugend ähnlich, dass man schon sehr genau hinsehen muss, um darin einen Nachtfalter zu erkennen.
Derweil wurde es Hochsommer und nun begegneten sie mir überall … Aus den noch hoch stehenden Wiesen kurz vor der ersten Mahd flatterten unzählige weiße Falter mit je vier schwarzen Punkten: Vierpunkt-Kleinspanner. Am Uferrand des Rheins traf ich auf eine Braune Tageule zwischen wilden Orchideen. Die Hinterlassenschaften eines Fuchses auf einem Schotterweg gönnte sich ein Pantherspanner, grellgelb, mit schwarzen Flecken. An einem Blumentopf in der Küche saß eines Tages ein Zimtbär. An der Schlafzimmerdecke ein Brennnesselzünsler. Am Abend auf dem Balkon eine Meldeneule. Und und und. Wohin ich auch ging, ich sah Nachtfalter, vor allem im Gras, aber auch an herumliegenden Holzstämmen und an Häuserwänden mitten in der Stadt.
ZimtbärWeidenbohrerMeldeneule
Einen Braunen Bären habe ich in diesem Sommer nicht wieder gesehen. Dafür waren es mindestens 25 Arten von Motten, die ich ohne die Begegnung im Jahr davor übersehen hätte. Für mich ist das noch immer erstaunlich: was alles sichtbar wird, wenn wir den Fokus bewusst setzen. Noch vor einem Jahr hätte ich geschworen, dass es hier nur „kleine braune Motten“ gäbe. Ich müsste es mittlerweile besser wissen, weil es immer wieder der gleiche Prozess ist: bei Wildpflanzen, Pilzen, Vögeln, … sichtbar werden sie alle durch die selbe Zutat: Aufmerksamkeit.
"Aufmerksamkeit ist die seltenste und reinste Form von Großzügigkeit."
— Simone Weil (Sozialrevolutionärin, Philosophin, Autorin)
— Schreibimpulse zum Mitwundern —
Schreibe über etwas oder jemanden, das/der dir im vergangenen Sommer (vielleicht zum ersten Mal) bewusst geworden oder aufgefallen ist. Das kann etwas sein, was dir im Außen begegnet, aber genauso eine Erkenntnis. Was stand der Entdeckung im Weg? Und was ermöglichte sie?
Schreibe über eine Kreatur, die keinen sonderlich guten Ruf genießt, die übersehen wird oder sogar verhasst ist: Nacktschnecke, Schmeißfliege, Zecke, Schleimpilze, Giersch oder oder oder. Recherchiere eine Liste von Fakten über sie, die dir vorher unbekannt waren. Schreibe ein Gedicht über sie, schreibe aus ihrer Sicht einen Brief, schreibe egal in welcher Form.
Motten, Motten, Motten:
Das Buch „Tagaktive Nachtfalter“ von Rainer Ulrich ist das erste und bisher einzige Bestimmungsbuch für diese Gruppe nicht ganz einfach aufspürbarer Lebewesen. Der Autor hat mit viel Geduld immerhin 339 Arten zusammengetragen und viele davon selbst fotografiert. Ein faszinierender Einblick und die Quelle für meine 10 Fakten. (Das Buch habe ich auf Anfrage vom Kosmos-Verlag als Rezensionsexemplar erhalten.)