Wunder(n) für Große - weich bleiben in verhärteten Zeiten
Anleitung, um ein Leben zu leben:
Schenke Aufmerksamkeit.
Wundere dich.
Erzähle davon.
— Mary Oliver
Schenke Aufmerksamkeit. Wundere dich.
Die Dichterin Mary Oliver gibt uns diese Anleitung, um „ein Leben“ zu leben, „for living a life“. Nicht „fürs Leben“, nicht für etwas allgemeines, abstraktes, sondern es geht konkret darum, das eine Leben, das eine eigene, tatsächlich zu leben. Und dabei solle man nicht nur aufmerksam sein, sondern sich auch wundern.
Laut Wiktionary bedeutet „sich wundern“, über etwas Unerwartetes erstaunt oder irritiert zu sein, sich darüber Gedanken zu machen oder sich eine Frage zu stellen. Für mich bedeutet aufmerksames Wundern, offen sein: hinsehen, hinhören, hinfühlen. Sich Stück für Stück herauszubewegen aus dem, was man für Unverrückbar hält, aus Pauschalisierungen, aus voreiligen Urteilen, aus der Flüchtigkeit, mit der man sich oft durch den Alltag bewegt. Weich zu bleiben und durchlässig, auch oder gerade in verhärteten Zeiten. Und trotzdem bei mir, mir der Subjektivität meiner Wahrnehmung ebenso bewusst wie der Grenzen, die ich für mich dabei ziehen muss, um bewegt im Tosen des Sturms von Eindrücken zu stehen, ohne fortgerissen zu werden.
Erzähle davon.
Aufmerksamkeit schenken. Wundern. Und dann davon erzählen. Menschsein und Geschichten sind untrennbar miteinander verwoben. Als erzählende Primaten erschließen wir uns die Realität, in die wir so unvermittelt geworfen werden, über Geschichten, die andere uns und wir uns selbst erzählen. Oberflächlich betrachtet scheint das Entertainment zu sein, tatsächlich aber stecken Geschichten überall: Im scheinbar Selbstverständlichen, mit dem wir aufgewachsen sind. In dem, was wir uns über andere erzählen. Und über uns selbst. In allem, woran wir festhalten. In dem, was uns nicht loslässt. Und auch überall dort, wo wir nicht hinsehen, in dem was wir noch nicht erkannt haben, was wir noch übersehen.
Diese Wunderkammer ist der Ort, an dem ich meine Geschichten, mein Wundern erzähle. Von jahreszeitlichen Zeichen, flauschigen Motten, fleischfressenden Pilzen und mitunter von großen Fragen. Und hier lade ich dich ein, mitzuwundern - die Impulse dazu findest Du immer am Ende, so wie hier:
— Schreibimpulse zum Mitwundern —
Schreibe zwei Listen: Was oder wem möchtest Du (mehr) Aufmerksamkeit schenken? Worüber wunderst Du dich? Das können scheinbar banale, alltägliche Dinge sein oder solche, die weit weg scheinen. Und, wenn Du willst, teile sie mit irgendwem oder irgendwo.
Beschreibe einen alltäglichen Weg irgendwohin, zum Beispiel zum Einkaufen, zur Schule, zur Arbeit. Das kann dein eigener sein oder ein erdachter. Beschreibe den Weg dann ein zweites Mal und flechte dabei Momente des Wunderns ein: über ein Ding, eine Veränderung, ein Wort, eine Geste, … Was verändert sich?