28.05.2025 16:56

Die Felsenhäuser von Graufthal

Über dem kleinen elsässischen Dorf Graufthal verschmilzt eine Häuserreihe mit rötlichem Sandsteinfelsen. Es sind drei kleine Häuser, Wand an Wand miteinander verbunden. Alle hellblau, mit roten Dächern. Die “Maisons des Rochers”, Felsenhäuser.

Ein schmaler Pfad führt hinauf, gegen Ende über unebene in den Sandstein gehauene Treppen. An einer ebenen Stelle befindet sich ein kleiner Souvenir-Laden, davor ein Tisch, an dem der Eintritt bezahlt wird. 

Danach geht es steil weiter nach oben, über unebene, durch den Regen glitschige Stufen. Als ich aus der Frühlingssonne ins Innere des ersten, niedrigen Hauses trete, müssen sich meine Augen erst an die Lichtverhältnisse gewöhnen. Aber schnell fühle ich mich wohl, denn ganz ehrlich: ich mag es lieber schummrig als “lichtdurchflutet”.

Schon beim ersten Umsehen wirkt es zugig und feucht. An einigen Stellen blättert die Farbe von den Wänden und Decken ab. Die Einrichtung ist simpel und überwiegend aus Holz: Bett, Tische, Stühle. Auf dem Tisch steht ein bunter Strauß frischer Blumen. 

Alle Häuser haben einen eigenen Charakter und sind für andere Bedürfnisse eingerichtet. Eines der Häuser wurde zuletzt von zwei älteren Schwestern bewohnt, ein anderes offenbar von einer Familie mit jungen Kindern. In einem gibt es eine Werkstatt, in einem anderen einen großen Ofen über zwei Zimmer hinweg. Es gibt noch ein zweites Stockwerk, das aber nicht besichtigt werden kann. 

Die Aussicht jedenfalls ist so schön, dass ich ins Grübeln komme: könnte ich hier wohnen? Auch im Winter? Beim Blick aus dem Fenster denke ich ja, beim Blick nach oben, wo die Decke nicht durchgängig und direkt darüber blanker Fels zu sehen ist, überwiegen die Zweifel. Ich frage mich, wie viel Interesse es wohl daran gegeben haben mag, dieses Zeugnis extremer Armut und Einfachheit in schicke Angebote auf AirBnB zu verwandeln. Aber mehr noch: wer waren die Menschen, die hier gewohnt haben? 

 

Die (letzten) Bewohnerinnen der Felsenhäuser

Ursprünglich dienten die Höhlen im Mittelalter als Lager für die nahegelegene Benediktinerabtei. Im 18. Jahrhundert wurden sie zu Wohnräumen umgebaut und beherbergten mehrere Familien.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten insgesamt 37 Personen in diesen Felsenwohnungen. Siebenunddreißig! In drei winzigen, geduckten Häusern. Ihre Namen und die Geschichten der Familien sind nicht vollständig dokumentiert. 

Die “Felsekäth” 

Bekannt ist jedoch, dass die letzte Bewohnerin, Catherine Ottermann, bis zu ihrem Tod im Jahr 1958 dort lebte. Sie war in der Region als "Felsekaeth" bekannt und ließ gegen ein kleines Entgelt Besucher ihre bescheidene Wohnung besichtigen. Schon 1920 ließ sie Elektrizität in ihrer Wohnung installieren, was für diese Zeit bemerkenswert war.

Die Felsekaeth lebte zuletzt mit ihrer Schwester Madeleine in einem der Häuser, jede in einem eigenen Zimmer. Catherine überlebte Madeleine um 11 Jahre. In ihrer Wohnung finden sich noch immer ein paar persönliche Überreste, unter anderem ein Foto der Schwestern und ein Brief aus dem Oktober 1927, auf Deutsch mit eingestreuten französischen Wörtern. Darin schreibt Lucie: “Meine liebe Catherin! Nun endlich schicke Ich Ihnen das Geld. Es sind 100 Francs. Behalten Sie alles. Ich schäme mich, Sie so lange warten zu lassen, doch jeden Tag war etwas anderes." Lucie erzählt, dass sie einen “lieben Buben” geboren habe, erzählt von den schweren Nachwirkungen der Geburt, bittet um Gebete für das Kind und lässt, neben der Schwester, noch eine ganze Reihe weiterer Menschen grüßen. Wofür sie das Geld schickte, erfahren wir nicht.

Neben dem Haus der Schwestern findet sich ein üppig bewachsener Garten mit krautigen Pflanzen und einigen kleinen Bäumen. Leider gibt es keine Informationen darüber, inwiefern dieses winzige, aber felsgewärmte Stück Land früher genutzt wurde. 

 

Noch lange denke ich darüber nach, wie das sein mag, so zu wohnen, schwanke zwischen Faszination, Mitgefühl und Bewunderung für die Bewohner:innen. Und setze einen weiteren Ort auf meine “falls irgendwann doch mal eine Zeitmaschine erfunden werden sollte” Liste … 

 

Die Felsenhäuser heute

Nach dem Tod von Catherine Ottermann wurden die Felsenhäuser restauriert, authentisch eingerichtet und in ein Museum umgewandelt. Seit 1988 stehen sie unter Denkmalschutz.


* alle Fotos zeigen das Haus von Catherine und Madeleine Ottermann