Zwischen den Jahren

Es sind die dunkelsten Tage im Jahr. Um die Wintersonnenwende (21. / 22. Dezember) zieht die Sonne auf der Nordhalbkugel ihre tiefste Bahn. Nie sind die Tage kürzer, die Nächte länger als jetzt. Und die Zeit scheint anderen Regeln zu folgen in diesen Tagen: durch den rechnerischen Übergang von einem Jahr auf ein neues, durch arbeitsfreie Tage, durch Besuche und Bräuche. Es ist eine Zeit voller Kontraste, zwischen Lichterketten und Dunkelheit, festlicher Leichtigkeit und tiefgrauer Schwere, zwischen vereisten Scheiben und Punsch.
 
Bis vor wenigen Jahren empfand ich den Dezember vor allem als überfüllt und überfordernd und hätte ihn im Kalender am liebsten übersprungen. Das ist halt so, dachte ich - vor allem, wenn man mit einem Online-Shop auf das Weihnachtsgeschäft angewiesen ist. Bis mich mein Körper zwang, das Zurruhekommen wirklich zu lernen. Seitdem habe ich ausgerechnet diese Zeit und vor allem den Zwischenraum “zwischen den Jahren” besonders schätzen gelernt: die Dunkelheit, die Ruhe, die Kälte, den natürlichen Impuls zu Rückzug und Reflexion, die Sollbruchstelle des Jahreswechsels. Und damit bin ich nicht alleine.
 
Was hat es auf sich mit dieser Zeit? 
Und was verrät sie uns, über die Natur - und uns selbst? 
 

Steady-Mitglieder mit dem Paket ”Brauner Bär” finden am Ende dieses Posts das E-Book “METAMORPHOSE - Journaling zwischen den Jahren”, ein Begleiter durch die dunkelsten Tage des Jahres mit Schreibimpulsen für Reflexion und Achtsamkeit. Außerdem wartet ein exklusiver Sticker, z.B. für dein Journal, den nur Steadys bestellen können. Hier kannst du Mitglied werden - für einen Monat oder für ein ganzes Jahr.

 

Eine zeitliche Einordnung

Laut der “Gesellschaft für deutsche Sprache” bezeichnet der Ausdruck “zwischen den Jahren” im deutschsprachigen Raum seit dem 14. Jahrhundert die Zeitspanne zwischen Weihnachten und entweder dem Neujahrstag am 1. Januar oder dem Dreikönigstag am 6. Januar. Zu den Ursprüngen dieses Zeitraums “zwischen” zwei Jahren begegnen einem vor allem zwei Theorien:
 

Sonnen- und Mondjahr

Ein “Sonnenjahr” besteht bekanntlich aus den 365,2422 Tagen, welche die Erde für eine Umrundung der Sonne benötigt. Ein “Mondjahr” entspricht 12 Mondzyklen von jeweils etwa 29,5 Tagen (dem Zeitraum zwischen Neumond und Vollmond) und damit 354 Tagen. Eine häufig referenzierte Theorie besagt, dass die “Zeit zwischen den Jahren” aus dieser Differenz entstanden sein soll, also aus der Lücke aus 11 Tagen bzw. 12 Nächten, welche das Mondjahr kürzer ist als das Sonnenjahr. 
 
Tatsächlich knabbern Menschen seit Jahrhunderten an der Aufgabe, das Sonnen- und Mondjahr zusammenzubringen. Zur Orientierung im Alltag und für religiöse Feste nutzen Menschen schon lange den Mondmonat. Diese Rhythmen sind einfach zu erkennen, wohingegen es für die Bestimmung des Sonnenjahres, von dem die Jahreszeiten, Aussaat, Ernte und so weiter abhängen, Strukturen wie Sonnenobservatorien oder geografische Fixpunkte braucht, an denen die Sonnenwenden (der kürzeste und der längste Tag des Jahres) und Tagundnachtgleichen abgelesen werden können. Dass sich diese rhythmische Lücke nach einem “Dazwischen” anfühlt, scheint mir nachvollziehbar, für die terminliche Festlegung Ende Dezember habe ich aber nach dieser Theorie bisher keine Belege gefunden. 
 
Weder Weihnachten noch Neujahr oder Dreikönig sind terminlich mit Sonnen- oder Mondjahr verbunden. Ein Ausgleich der beiden Systeme wird durch die 11 Tage “außerhalb der Zeit” auch nicht erreicht, denn es gibt kein “dazwischen” zwischen Mond- und Sonnenjahr, beide Systeme laufen immer weiter. Ein Beispiel für einen tatsächlichen Ausgleich zwischen Mond- und Sonnenjahr finden wir hingegen im Lunisolarkalender. Die Orientierung findet hier an den Mondmonaten statt und die Verschiebung im Verhältnis zum Sonnenjahr wird ausgeglichen, indem es etwa alle drei Jahre einen 13. Monat gibt.
 

Kalender

Der zweiten Theorie nach entwickelte sich das “Dazwischen” zu genau diesem Zeitpunkt, also Ende Dezember / Anfang Januar, im Zusammenhang mit wechselnden Festlegungen des Jahresanfangs in Teilen Europas. Bereits im Jahr 153 v.u.Z. wurde in Rom der 1. Januar als Jahresanfang festgelegt. Später wurde dieser Jahresanfang erst im Julianischen (45 v.u.Z.) und sehr viel später im darauf basierenden Gregorianischen Kalender (1582) übernommen. Der Gregorianische Kalender gilt heute in weiten Teilen der Welt als Standard, brauchte jedoch lange, um sich durchzusetzen. Stattdessen gab es unterschiedlichste regionale, kulturelle und religiöse Festlegungen bezüglich des Jahresanfangs, mitunter selbst auf engem geografischem Raum. Neben dem 1. Januar waren insbesondere der 25. Dezember (Weihnachten) und der 6. Januar (Hochneujahr / Dreikönige) lange weit verbreitet. Die Theorie ist, dass durch diese unterschiedlichen Daten eine Zeit “zwischen den Jahren” entstand, in der das Jahr für die einen schon neu begonnen hatte, für die anderen jedoch noch nicht. 

Die ersten schriftlichen Nachweise für den Begriff der “Raunächte” als Zeitraum “zwischen den Jahren” stammen aus dem 16. Jahrhundert. Das fällt in eine Zeit, in der die Jahresanfänge noch wenig vereinheitlicht waren. Auch die Gregorianische Kalenderreform fand in diesem Jahrhundert statt. Der Gregorianische Kalender löste 1582 den Julianischen ab, dessen zu langes Kalenderjahr im Verhältnis zum Sonnenjahr dazu geführt hatte, dass der Kalender der Sonne zu diesem Zeitpunkt bereits um zehn Tage hinterher hinkte, was mit der Reform durch den Ausfall von zehn Kalendertagen korrigiert wurde und sicherlich zu einiger Irritation unter den Menschen führte.

Oder beides?

Es wird wohl offen bleiben, woher genau sowohl die Begrifflichkeiten als auch der konkrete Zeitraum stammen. Denkbar wäre meines Erachtens auch eine Verbindung beider Theorien, dass also der Zeitraum (die Existenz einer “Zeit zwischen den Jahren” von 11 Tagen) durch die Wahrnehmung der Differenz zwischen Mond- und Sonnenjahr entstanden sein könnte, jedoch der Zeitpunkt durch die kalendarischen Unterschiede. 

In der Beschäftigung mit Bräuchen wie den Jahreskreisfesten und den Raunächten habe ich über die Jahre eines gelernt: auch wenn dabei Jahrhunderte weit zurückliegende Praktiken referenziert werden und die Regeln nachvollziehbar und eindeutig scheinen, sind die historischen kulturellen Entwicklungen und regionalen Besonderheiten deutlich vielfältiger. 

Wenn etwas glatt und einheitlich ist, ist es höchstwahrscheinlich nicht sehr alt.

Rituale und Bräuche

Sowohl die Dunkelheit und Winterruhe in der Natur als auch der Übergang von einem Jahr zum anderen inspirieren Menschen seit langem zu Bräuchen und Ritualen. Besonders dicht zeigt sich das in den “Raunächten”, für die der Ausdruck “zwischen den Jahren” häufig synonym verwendet wird. Unter den Raunächten werden üblicherweise 12 Nächte zwischen Wintersonnenwende/Weihnachten und Neujahr/Dreikönig verstanden, in denen je nach Ansatz mehr oder weniger spezifische Regeln und Bräuche üblich sind. Daneben gibt es die weniger bekannten Dunkelnächte, auch Sperrnächte. Grob kann man sagen: die Dunkelnächte beziehen sich auf die Tage vor, die Raunächte auf die nach der Wintersonnenwende. 
 
Typische Rituale und Bräuche für die Zeit zwischen den Jahren aus unterschiedlichsten Zeiten:
  • Kerzen, Lichterketten - alles, was die Dunkelheit vertreibt;
  • Ausmisten oder Hausputz (oder: genau das nicht bzw. vorab zu tun);
  • Aufschreiben oder Äußern von Vorsätzen und Wünschen;
  • Orakel wie Zinngießen, Tarot, Traumdeutung oder das Zwiebelorakel zur Wetterprognose;
  • die “13 Wünsche”, bei dem in jeder dieser Nächte ein Wunsch ungesehen dem Feuer übergeben wird und der 13. enthüllt und selbst erfüllt werden soll;
  • das Räuchern von Wohnräumen und Ställen;
  • Heischebräuche, bei denen um Gaben gebeten wird;
  • wer an die “Wilde Jagd” glaubt, hängt unter anderem in dieser Zeit keine Wäsche auf;
  • außerdem viele, viele regionale, sehr spezifische Bräuche.
     

Was die Zeit zwischen den Jahren verrät

Ich habe mich gefragt, was die Essenz ist, das Grundsätzliche, das so eigen und faszinierend ist an der Zeit zwischen den Jahren. Die Dunkelheit natürlich, die Kontraste, für viele die arbeitsfreien Tage und die womöglich empfundene Zeitfülle zwischen den Feiertagen. Und dann ist da natürlich, in unserer Zeitrechnung, der Übergang der Jahre. Ob wir wollen oder nicht, wird hier die Wahrnehmung in vorher und nachher, alt und neu getrennt. 
 
In der Wildnis stehen die Zeichen in dieser Zeit überwiegend auf Ruhe und Rückzug. Zwar suchen etwa Füchse und Waldkäuze schon mit weit hallenden Rufen ihre Partner:innen für das nächste Jahr und manche Pilze und Pflanzen fühlen sich genau jetzt wohl, aber die meisten Kreaturen sind in dieser Zeit darauf bedacht, möglichst wenig Energie aufzuwenden, um durch den Winter zu kommen. Bäume sind kahl, Pflanzen sterben oberirdisch ab und konzentrieren sich auf ihr Wurzelwerk. Würde nicht in jedem Winter ein solcher Reset stattfinden, wäre irgendwann alles überladen und erstickt. Und so sind die Notwendigkeit des Loslassens und die unvermeidbare Vergänglichkeit nie präsenter und offensichtlicher als jetzt. Gleichzeitig liegt das Potenzial für das Neue längst mit allem, was es braucht, in Form von Knospen und Samen unter Eis und Schnee.

 

Die Zeit zwischen den Jahren zu etwas eigenem machen

Über die Jahre habe ich manches ausprobiert, um diesen Tagen einen Rahmen zu geben. Aber mit vielem von dem, was vor allem unter dem Begriff “Raunächte” zu finden ist, werde ich nicht warm. Vor allem unflexible, scheinbar unumstößliche Regeln, die sich angeblich auf Jahrhunderte alte Traditionen beziehen, sind nichts für mich. Ebenso wenig “magisches Denken”, das in diesem Kontext weit verbreitet ist. 
 
Ich bewege mich lieber zwischen den Welten, verbunden mit Naturwissenschaft und einer gewissen Spiritualität. Der Kern ist für mich nicht, wie alt eine Praxis ist, sondern wie nah am Erlebbaren. Dunkelheit, Kälte, Rückzug, Vergänglichkeit - alles das ist tatsächlich da, erlebbar und hat Einfluss.
 
Und so ist meine eigene Herangehensweise immer simpler geworden: Ich versuche mir einen temporären Kokon zu schaffen, wenn möglich aufgeräumt und mit gefüllten Vorräten, und darin zu überwintern wie es unter anderem manche Arten von Faltern tun. Ich sage nur wenige Termine zu, bin möglichst wenig online, gehe viel wandern in der Umgebung. Und ich schreibe, schreibe, schreibe - wild und zu Impulsen, die die Themen dieser Zeit ganz direkt aufgreifen.
 
Und in diesem Kokon fühlt es sich tatsächlich ein bisschen nach einer Metamorphose an. Einer angedeuteten zwar und weit weniger elementar wie bei einer Raupe, die sich in ihrem Kokon unter einer dünnen Gewebeschicht bis auf ein paar Organe und die Imaginalscheiben, aus denen die neuen Körperteile wachsen werden, auflöst. Aber doch so, dass sich das Danach merklich vom Davor unterscheidet. Altes wird aufgelöst und zurück gelassen oder umgeformt, Neues entsteht. Die Umgebung und das Schreiben begleiten das für mich und sorgen für den Rahmen.
 

Der größere Kontext

Sich diese Zeit zu nehmen - und in Buchläden und online wird deutlich, dass das ein weit verbreitetes Bedürfnis ist - findet zunächst einmal auf der persönlichen Ebene statt. Ich bin mittlerweile jedoch überzeugt davon, dass die Auseinandersetzung mit sich und den eigenen Themen überhaupt erst die Basis dafür ist, anderen auf Augenhöhe und Herausforderungen in Ruhe zu begegnen. “Achtsamkeit” bedeutet nicht naive Weltflucht, sondern eigentlich: aufmerksam zu werden, für alles, was da ist. Der Begriff des “engagierten Buddhismus” etwa, einer Variante des Zen, beschreibt eine Haltung, in der innere Praxis und gesellschaftliches Handeln untrennbar verbunden sind und sich Achtsamkeit und Aktivismus nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. 
 
 
In diesem Bewusstsein spinne ich auch dieses Jahr wieder meinen Kokon für die Zeit zwischen den Jahren. Von Jahr zu Jahr mit etwas mehr Leichtigkeit. Als losen Rahmen zur Reflexion habe ich dafür ein E-Book mit Schreibimpulsen kreiert. Als Mitglied (”Brauner Bär”) findest du sie unterhalb, sobald du dich bei Steady einloggst.
 
Und damit wünsche ich dir und euch eine gute Zeit zwischen den Jahren!
 
 

— Schreibimpulse zum Mitwundern — 

Das E-Book “METAMORPHOSE - Journaling zwischen den Jahren" ist ein feiner Begleiter für die Zwischenzeit mit Schreibimpulsen aus dem kreativen, autobiografischen und naturinspirierten Schreiben. 

Es ist exklusiv und kostenfrei für Steady-Mitglieder mit dem Paket ”Brauner Bär”. Außerdem wartet ein Sticker, z.B. für dein Journal, den nur Mitglieder bestellen können. Du kannst Mitglied werden für einen Monat oder für ein ganzes Jahr.